Mehr oder weniger
Nun heißt es wieder den Gürtel enger
schnallen. Gar nicht so einfach, nach
diversen Weihnachtsgänsen, Christstollen und Mulligatawnysuppen. Und der
restliche Fondantbaumbehang musste
ja schließlich auch noch weg.
Gutes Essen sei die Erotik des
Alters, habe ich mal gelesen.
So gesehen bin ich über die
Feiertage ziemlich vergreist.
Wobei ich andererseits auch nicht recht
überzeugt davon bin, dass schlechtes
Essen mich irgendwie jünger machen
würde. Aber zurück zum eng geschnallten Gürtel. Der ist nicht nur der ausufernden Figur zuliebe notwendig, die
ja ohnehin eher die andern stört, als
einen selber. Nein, mir ist aufgefallen,
dass es merkwürdigerweise überall von
allem ein bisschen weniger gibt. Haben
Sie es noch nicht gemerkt? Früher war
mehr Schnee, früher war mehr Zeit und
früher war auch mehr Lametta. Heute
ist Reduktion angesagt, Schrumpfen,
Abspecken. Wann haben Sie denn beim
Fleischer zuletzt auf die Darfs-vielleichtfünfzehn-Gramm-mehr-sein-Frage geantwortet: „Aber ja doch, und legen Sie
noch eine Scheibe Speck mit drauf“?
Heute kauft man zehn Gramm weniger.
Vom Grünkernbratling! Aber auch alles
andere nimmt ab. Mein Sparguthaben
zum Beispiel, die Zahl der Zähne im
Mund und der Haare auf dem Kopf. Alles
reduziert. Telefonzellen, Nahverkehrszüge, der Wert des Euro, die Zahl der
Krankenkassen. Überall wird abgenommen und eingespart. In dieser Zeit der
gesteigerten Verringerung des Reduktionswachstums geht natürlich auch
unsere Gemeinde mit gutem Beispiel
voran. Vielleicht ist es Ihnen gar nicht
aufgefallen, weil Sie andernorts noch schnell irgendetwas
kürzen mussten. Wir haben
im vorigen Jahr den kompletten vierten Advent eingespart.
Einfach so. Gut, er lag auch günstig,
einen Tag vor Heiligabend. Aber trotzdem. Ein Schritt in die richtige Richtung.
Muss ja nun wirklich nicht immer Gottesdienst sein am Sonntag. Meistens
haben die Leute doch ohnehin etwas
anderes vor. Das Angebot reduzieren
und dadurch kostbar machen. Endlich
hat unser Kirchenvorstand mal kapiert,
wie der Markt funktioniert. Und es hat
prima geklappt. Heiligabend war die Kirche voll. Gleich mehrfach. Auch unsere
Landeskirche hilft nach Kräften bei der
Diät mit. Strukturreformen sorgen vorausschauend für eingesparte Personalstellen. Ja, was man da noch alles reduzieren könnte. Am besten wir schließen
komplett zu und öffnen nur noch am
Heiligabend und zu Kirchentagen. Dann
brauchen wir sozusagen nicht mal mehr
einen Gürtel zum Engerschnallen. Weil
wir gar keine Hose mehr haben. So, ich
geh jetzt noch mal an den Kühlschrank.
Irgendwo muss doch noch der Rest vom
Weihnachtsgänseschmalz sein.
Traugott
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