Hören ist Apfelmus
Reden sei Silber, heißt es, Schweigen
hingegen Gold. In vielen Situationen
gebe ich, der doch gelegentlich selbst
von einem dringenden Mitteilungsbedürfnis überfallen wird, dem Volksmund recht. So zum Beispiel, wenn
ich es mir mit einem guten Buch im
Eisenbahngroßraumwagen gemütlich
gemacht habe, aber die fein gedrechselten Worte der Weltliteratur vor
meinem inneren Auge verschwimmen
und von der Wochenendeinkaufsliste
eines gegenübersitzenden Passagiers
überlagert werden, die gerade in einer
für alle Mitreisenden gut vernehmbaren Lautstärke über ein Mobiltelefon
live in das Zugabteil übertragen wird.
Nur unterbrochen durch gelegentliche
Funklöcher, nach deren Ende sich der
Einkaufslistenempfänger und die ihm
offensichtlich näher bekannte Listenansagerin gegenseitig vergewissern, dass
sie „jetzt wieder da“ seien, sowie einige
scheppernde Durchsagen des Bahnpersonals, die auf eventuelle Anschlusszüge in möglicherweise zu erreichenden
Bahnhöfen verweisen, über die später dann noch Genaueres zu erfahren
sei, gefolgt von dem mehrsprachigen
Hinweis, dass es im Eisenbahnbordbistro ein „kulinarisches Angebot“ gäbe.
Dieses sind Momente, wo tatsächlich
Ruhe so kostbar wie Gold wäre. Doch
ich möchte die Redewendung noch um
einen Superlativ ergänzen: Zuhören
ist gelegentlich noch wertvoller. Also
dann mindestens Platin oder Diamant
oder Omas selbstgemachter Apfelmus,
jedenfalls etwas unerhört Kostbares.
Das Zuhören fällt meistens schwer, setzt
es doch die innere Bereitschaft voraus,
sich auf das Gesagte und im besten
Falle zuvor Gedachte des Redenden
empathisch einzulassen. Eine Anforderung, an deren Einhaltung bereits Generationen von Eltern, Ehegattinnen und
Pfarrern gescheitert sind oder wie es
eine meiner ehemaligen Erziehungsberechtigten auf den Punkt brachte: Das,
was du hören sollst, hörst du nie. Aber
das, was du nicht hören sollst, hörste
umso besser! Das Hören ist tatsächlich
ein paradoxer Sinn. Selbst nächtens,
wenn nach und nach alle anderen Sinne
im Schlaf ermattet transzendent vor
sich hin mumpeln, ist er manchmal hellwach. Hallo sagt er dann. Haallloo! Hör
doch mal: hier summt eine Mücke, von
fern tutet eine Polizeisirene und übrigens, neben Dir schnarcht jemand. Das
Hören lässt sich eben nicht ausschalten.
Gehört wird irgendwie immer. Außer
natürlich in der Auferstehungskirche.
Da gibt es sie, die von uns so oft herbei
gesehnten Momente der Stille. Da kehrt
Ruhe ein. Dafür sorgt eine einzigartige
technische Geräuschfilteranlage, die
nur uneingeweihte Laien als „Mikrofon“
und „Lautsprecher“ bezeichnen würden. Wenn dieses Wunderwerk moderner Ingenieurskunst eingeschaltet wird,
löscht es einfach alle störenden Töne
und zurück bleibt für uns alle herrlich
erholsame Stille. Endlich Ruhe. Zeit, ein
schönes Buch zu lesen oder in Gedanken den Einkaufszettel durchzugehen.
Und wer’s kann, versucht dem Pfarrer
leise die Predigt von den Lippen abzulesen. Aber Pssst! Die andern wollen vielleicht schlafen.
Traugott
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