Schwestern und Tanten
Einzelkindern wirft der Volksmund
vor, sie seien zu verwöhnt. Meine
ebenfalls volksmundige Antwort als
solchermaßen ver(w)höhntes Einzelkind
lautete, dass man sich seine
Freunde aussuchen könne, seine
Verwandten hingegen nicht - ätsch!
Aber wie mich die jüngere Geschichte
unserer Gemeinde gelehrt
hat, stimmt das so nicht. Manche
Verwandten können sehr wohl ausgesucht
werden. Schwestern zum
Beispiel. Die väterlich sorgende
Landeskirche hatte den gemeindlichen
Einzelkindern im Dresdener
Süden vor einiger Zeit geraten, sich
zu verbrüdern, um so zu Schwestern
zu werden, also Schwestergemeinden.
Ein nicht nur semantisch
außerordentlich schwieriges Unterfangen.
Aber was soll man machen,
wenn Papa mit Taschengeldentzug
droht? Immerhin war die Auswahl
der zukünftigen Betschwestern weitestgehend
freiwillig. Doch nach
welchen Kriterien sucht man sich
Geschwister aus? Die Rituale der
Brautschau sind da überschaubarer:
Der Bräutigam soll gebildet, vermögend,
sensibel, mutig, leidenschaftlich,
einfühlsam, stilvoll, schön und
gesund sein sowie seiner Angebeteten
jeden Wunsch von irgendwoher
ablesen, um ihn erfüllen zu können,
noch bevor er ausgesprochen ist.
Die Braut soll schön sein. So einfach
ist das beim Heiraten, aber beim
"Verschwestern"? Dafür gibt?s ja
nicht mal ein richtiges Wort!
Was es aber bei Schwestern gibt, ist
eine großartige, für Einzelkinder jedoch
unerreichbare, Kostbarkeit.
Schwestern können sich nämlich,
unter Zuhilfenahme von hier nicht
näher erläuterten Zutaten, verwandeln.
Ja, im Verlauf des Lebens mutieren
sie zu Tanten. Erst im Stadium
der Tante offenbart sich die
Schwester in ihrer ganzen Vollkommenheit.
Sie steht Pate an der
Wiege des Neffen, sie schickt der
Nichte Päckchen mit den abgelegten
Sachen der Cousine, kurz sie
hilft den Kindern ihrer Schwester,
wo sie nur kann. Tanten haben so
etwas liebevoll Urgemütliches. Das
klingt nach Kaffee und Kuchen und
selbst gestrickten Wollsocken. Neffen
und Nichten werden verwöhnt
bei der Tante. Deshalb schlage ich
vor, künftig nur noch vom Tantenkirchverhältnis
zu sprechen. Das
Gemeindeblatt geht hier natürlich
mit gutem Beispiel voran. Für Sie,
liebe Neffen und Nichten in den
Tantengemeinden, erscheint ab
jetzt nämlich ein gemeinsames Gemeindeblatt.
Wollsocken kommen
später.
Ihr Onkel Traugott
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